Der Tod der Ines S.
Schwere Wolken verdeckten den Himmel. Der Sturm fetzte sie in Stücke. Blitze zuckten durch die Nacht. Der Regen peitschte die alten Bäume. Der Mann schlug den Mantelkragen hoch. Das Haar hing ihm wirr in die Stirn. In die Blitze mischte sich das Blitzen der Fotoapparate. Die Spurensicherung arbeitete auf vollen Touren. Der strömende Regen erschwerte ihre Arbeit. Ein kleiner Mann im dunklen Anzug, der mit seinem Regenschirm kämpfte kam auf den im Mantel zu. Er deutete auf die junge Frau, die seltsam steif im hohen Gras lag. Regen troff ihr vom Haar über das Gesicht und wusch die Blutspritzer ab.
„Eindeutig Selbstmord“, knurrte der Kleine. „Seltsam, wo die Leute sich so das Leben nehmen. Die Tote hat sich den Puls aufgeschnitten. Der Tod ist vor zehn bis elf Stunden eingetreten. Genaueres kann ich erst nach der Obduktion sagen. War ein verdammt hübsches Ding“.
„Wir haben ihre Papiere gefunden“, sagte der Mann im Mantel. „Ines S.ogota hieß sie. Zweiundzwanzig Jahre. Müssen die Personalien aber noch überprüfen“
Ein junger, dickbäuchiger Polizist in Uniform zwängte sich zwischen die beiden.
„Kommissar Brander, wir haben eben gehört, dass die Tote eine eigene Wohnung hatte. Dort hat sie bis vor kurzem mit einem gewissen Frank Heinrich zusammen gelebt. Wo Heinrich jetzt lebt, wissen wir noch nicht“.
„Verwandte?“
„Ja, Vater seit zwei Jahren verstorben, Mutter lebt in einem Sanatorium. Ihr Bruder, Bernd Sogota, fünfundzwanzig Jahre, lebt seit drei Jahren mit seiner Frau und seinem zweijährigen Sohn in der Kaiserstraße 25. Mehr wissen wir nicht.“
„Ist doch ne ganze Menge“, meinte Kommissar Brander.
„Ist die Familie schon unterrichtet?“
„Bis jetzt noch nicht“.
„Na dann werde ich das übernehmen“, sagte der Kommissar.
Er strich sich den Regen von Stirn und Mantel, setzte sich in seinen Wagen und fuhr davon.
„Das war’s“, brummte Kommissar Brander, klappte die Akte vor sich zu und fuhr sich mit der Hand über die Augen.
Der Selbstmord der Ines Sogota und dessen nähere Umstände war aufgeklärt. Die Ermittlungen waren schwierig und langwierig gewesen. Doch was diese Ermittlungen hervor gebracht hatten, war selbst für einen hartgesottenen Polizeibeamten wie Kommissar Brander erschütternd.
Ines Sogota war in einem Elternhaus aufgewachsen, in dem der Vater der unumschränkte Herrscher war. Er trank viel, schlug häufig Frau und Kinder und sein Wort war unwiderrufliches Gesetz. Er tyrannisierte die ganze Familie. Ines Mutter war seit Jahren nur noch ein Häufchen Elend, das zu zittern begann, sobald der Herr des Hauses erschien.
In dieser ungesunden Atmosphäre wuchs Ines zu einem scheuen, verängstigten jungen Mädchen heran. Als sie mit vierzehn Jahren ihren ersten Freund hatte, schlug der Vater sie krankenhausreif.
Sechs Wochen Krankenhaus, davon drei in Gips, waren das Resultat dieser ersten Freundschaft. Die Mutter wagte nicht, Ines im Krankenhaus zu besuchen. Nur ihr Bruder Bernd besuchte sie jeden Tag. Als ihr Vater davon erfuhr, warf er Bernd kurzerhand aus dem Haus.
Nach der Entlassung aus der Klinik verschloss sich Ines immer mehr, wurde immer stiller und in sich gekehrt.
An ihrem achtzehnten Geburtstag zog Ines mit Hilfe ihres Bruders in eine eigene Wohnung. Sie war ein stiller, verschlossener Mensch, der voller Misstrauen gegen jeden Menschen war. Sie hatte weder Freunde, noch Bekannte. Der einzige Mensch, der ihr blieb, war ihr Bruder. Doch dieser hatte sich erst kürzlich verliebt und wenig Zeit für Ines. So war Ines sich selbst überlassen.
Zwei Wochen vor ihrem neunzehnten Geburtstag heiratete Bernd. Die Hochzeit wurde groß gefeiert. Ines gönnte ihrem Bruder von ganzem Herzen sein Glück. Sie war die Trauzeugin ihres Bruders, den Trauzeugen der Braut kannte sie nicht. Der Mann war groß, breitschultrig, dunkelhaarig und braunäugig. Er trug einen eleganten Anzug und zog alle Blicke auch sich. Auch Ines konnte kaum den Blick von ihm wenden. Er hatte sich ihr formvollendet als Frank Heinrich vorgestellt.
Ines konnte nicht begreifen, was ihr an diesem Mann so imponierte. Als er sie später zum Tanz aufforderte, war sie verlegen, wie ein kleines Schulmädchen.
„Bernd hat mir nie gesagt, dass er so eine bezaubernde Schwester hat“, sagte Frank.
„Und ich wusste nicht, dass Sie Bernd überhaupt kennen“, antwortete sie und ärgerte sich im gleichen Moment über ihre Antwort. Doch Frank überging die Antwort einfach und fragte: „Wann darf ich Sie wiedersehen?“
„Wiedersehen?“ fragte Ines verblüfft.
„Natürlich“, gab er zurück, „ein so hübsches Mädchen muss man doch wiedersehen“.
Ines war die direkte Art des jungen Mannes peinlich. Sie wand sich, doch er gab nicht eher Ruhe, bis er ein festes Rendezvous mit ihr vereinbart hatte.
Eine Woche später holte er sie zu Hause ab. Er führte sie zum Essen in eines der besten Lokale der Stadt. Seine charmante Art zu plaudern, seine galante Art sie zu umwerben, schmeichelten ihr. Verwundert stellte sie fest, dass sie sich immer mehr zu ihm hingezogen fühlte. Er verstand es, langsam, aber sicher, ihr Vertrauen zu erwecken. Ines begriff überhaupt nichts mehr. Sie, die sich zeit ihres Lebens in sich selbst verschlossen hatte, fasste gleich am ersten Abend, den sie mit Frank Heinrich verbrachte, Vertrauen zu ihm. Sie kannte sich selbst nicht mehr. Sie hatte sich in diesen gutaussehenden Mann Hals über Kopf verliebt.
Als er sie spät am Abend nach Hause brachte, sie zärtlich in den Arm nahm und sie ganz sanft, ganz behutsam küsste, war sie nicht in der Lage, sich zu wehren, im Gegenteil, sie wünschte sich, dass dieser Augenblick nie zu Ende ginge. Erschrocken über ihre eigenen Gedanken, ließ sie ihn einfach stehen, rannte die Treppe hinauf und lehnte sich gegen die Tür. Mit zitternden Fingern öffnete sie, stürzte sich in die Wohnung, lief zu ihrem Bett und vergrub den Kopf in den Kissen.
Seine Küsse brannten noch immer wie Feuer. Eine nie gekannte Sehnsucht erwachte in ihr. Und obwohl sie völlig übermüdet war, konnte sie die ganze Nacht nicht schlafen.
Am Tag ihres neunzehnten Geburtstags erschien Frank Heinrich mit einem riesigen Strauß roter Rosen. Er reichte ihr ein kleines Päckchen.
„Für das schönste Mädchen der Welt!“ sagte er. Ines wusste sich gar nicht zu fassen.
„Woher wussten Sie…?“
Er lachte, „von Bernd natürlich“.
Ines öffnete vorsichtig das Päckchen. Dann hielt sie eine kleine Brosche in der Hand, ein winziges Körbchen voller Rosen.
„Aber das geht doch nicht“, stammelte sie.
„Warum denn nicht, meine Schöne?“ gab er lächelnd zurück. Er nahm ihr die Brosche aus der Hand und steckte sie ihr ans Kleid, wobei er sie wie zufällig berührte. Ines wurde stocksteif unter der flüchtigen Berührung. Doch er nahm sie einfach in den Arm und küsste sie zärtlich. Sanft wiederholte er die Berührung. Liebevoll und zärtlich war er den ganzen Abend, bis er sie spät in der Nacht in ihr Bett trug und sie in dieser Nacht zur Frau machte.
Am nächsten Morgen war Ines völlig verstört. Die Erinnerung an Franks Zärtlichkeiten wallten in ihr hoch. Er hatte sie mit dem ersten Morgengrauen verlassen. Glücklich hatte sie in den Morgen geschlafen. Glücklich!
Etwas nie Dagewesenes. Etwas völlig neues. Glücklich!
Zum ersten Mal hatte sie jemand gern. Sie wurde geliebt. Noch nie war sie geliebt worden. Frank liebte sie. Er hatte es die Nacht ja oft genug gesagt. Sie war glücklich!
Vierzehn Tage waren vergangen. Vierzehn Tage voller Angst, er würde nicht wiederkommen. Voller Angst, ihn zu verlieren. Vierzehn Tage in bangem Warten. Dabei hatte sie ihn erst zwei Mal getroffen. Und doch war sie, die Scheue, Schüchterne, Zurückhaltende und doch – war sie gefangen. Sie war sich sicher, die groß Liebe ihres Lebens gefunden zu haben. Sie liebte ihn mit der ganzen unschuldigen Kraft ihrer neunzehn Jahre.
Und dann kam er wieder. Und wieder war er zärtlich und lieb. Und er ging beim ersten Morgengrauen. Und sie vertraute ihm wieder etwas mehr. Doch größer wurde die Angst, ihn zu verlieren.
So kam er bald ein halbes Jahr lang. Immer in unregelmäßigen Abständen, aber immer gleich lieb, gleich zärtlich. Und sie sah immer mehr zu ihm auf. Er hatte ihr ganzes Vertrauen. Ihre ganze Liebe. Sie fühlte sich bei ihm geborgen. Sie bot ihm an, zu ihr zu ziehen.
Eine Woche später hielt er bei ihr Einzug. Sie sah ihn nun jeden Tag, verbrachte jede Nacht mit ihm. Sie war glücklich.
Dann, eines Tages, sie lebten ein viertel Jahr zusammen, kam er nicht nach Hause. Sie befürchtete, ihm wäre etwas zugestoßen. Doch er kam am nächsten Morgen und wollte auf ihre Fragen keine Antwort geben.
Immer häufiger blieb er fort, und wenn sie fragte, wo er denn gewesen sei, gab er nur zur Antwort:
„Ich gehe, wohin es mir passt. Und wenn dir das nicht gefällt, kann ich ja gehen“.
Doch das war ihre größte Angst, dass er tatsächlich gehen könnte. So wartete sie nächtelang. Sie konnte, durfte ihn nicht verlieren! Er war ihr Lebensinhalt. Ihr Pulsschlag, ihr Leben! Ohne ihn war sie nichts! Er durfte nicht gehen! Alles, alles, nur das nicht! Und so wartete sie.
Eines Tages, kurz vor ihrem zwanzigsten Geburtstag, brachte er ein junges Mädchen mit.
„Das ist Anita. Wir wollen es mal mit dir zu dritt tun“, erklärte er.
Und als Ines sich weigerte:
„Dann gehen wir eben woanders hin“.
Ines wollte Frank nicht verlieren. Sie weigerte sich nicht länger. Sie weigerte sich auch nicht, als er einige Tage darauf einen Bekannten mitbrachte. Sie weigerte sich nie mehr. Daraufhin war er wieder lieb und zärtlich. Und sie kam von ihm nicht los. Er war ihr Alles. Die Luft zum Atmen. Und sie liebte ihn. Für ihn ist sie Alles. Und wenn er solche Sexspiele liebte, wollte sie ihm zu Liebe alles mitmachen. Nur verlassen durfte er sie nicht!
Als sie anderthalb Jahre zusammen waren, merkte sie, dass sieschwanger war. Sie war selig. Ein Kind von Frank! Konnte es etwas Schöneres geben? Überglücklich erzählte sie ihm die Neuigkeit.
"Bist du wahnsinnig?“ herrschte er sie an.
„Ich will kein Kind. Von dir schon gar nicht, du Schlampe! Willst mich wohl hinters Licht führen? Du Hurenstück! Wer weiss, wessen Wechselbalg du dir da eingefangen hast!“
und mit jedem Wort schlug er brutal auf sie ein.
Sie schrie nicht. Sie weinte nur still vor sich hin. Wieder und wieder schlug er auf sie ein.
Plötzlich durchraste sie ein scharfer Schmerz. Blut lief ihr nicht nur vom Gesicht, sondern auch die Beine hinab. Wieder dieses Reißen im Unterleib. In heftigen Stößen schoss ihr das Blut hervor. Sie krümmte sich vor Schmerzen. Frank ließ von ihr ab. Gelassen ging er zum Telefon und rief einen Krankenwagen. Ines wurde sofort in die Klinik gebracht.
Vier Wochen musste sie dort bleiben. In dieser Zeit besuchte sie ihr Bruder. Er kam mit schlechten Nachrichten. Ihr Vater war verstorben.
Sein Tod war ganz plötzlich gekommen. Die Mutter hatte daraufhin einen Nervenzusammenbruch erlitten und war in ein Sanatorium eingeliefert worden. Es stand zu befürchten, dass sie sich nie mehr davon erholen würde. Der Vater hatte sie schon vorher zu sehr zu Grunde gerichtet. Ines hörte sich das schweigend an. Die Eltern waren ihr gleichgültig. Was Bernd dort erzählte, berührte sie nicht. Sie hatte nur einen Gedanken. Was Frank wohl jetzt treibt? Ob er nun geht? Sie wollte Frank nicht verlieren. Er hatte sie einmal besucht und ihr gesagt, wie leid ihm alles täte. Er habe sie doch lieb!
Bestimmt liebte er sie wirklich. Wäre er sonst noch bei ihr? Sie war ihm nicht böse. Vielleicht würden sie ja später ein Kind haben. Er hatte versprochen, sie aus der Klinik abzuholen.
Als sie entlassen wurde, stand er auch tatsächlich da, war lieb und nett, zärtlich wie früher. Und sie war glücklich!
Die erste Zeit, die sie wieder zu Hause war, war wunderschön.
Frank war zu Hause, rührend um sie bemüht. Doch dann brachte er wieder Bekannte mit, blieb nächtelang fern und drohte, sie zu verlassen, sowie sie es wagte, sich zu beklagen.
Und langsam, aber sicher, zerbrach Ines an ihm. Sie ging mit seinen Bekannten ins Bett, ihm zu Liebe. Sie wartete nächtelang, ihm zu Liebe. Und sie liebte ihn. Sie nahm ab, hatte Ränder unter den Augen und war mit den Nerven am Ende. Bat sie ihn, zu Hause zu bleiben, lachte er sie aus. Bat sie ihn, keine Bekannten mitzubringen, drohte er, sie zu verlassen und sich eine andere zu suchen, die ihm diesen Gefallen gern täte. Und Ines machte alles weiter mit, denn sie liebte ihn ja.
Wieder stand ihr Geburtstag vor der Tür. Sie wurde einundzwanzig Jahre alt. Da geschah es, dass sie mit einem seiner Bekannten allein war. Dieser fragte sie, ob sie es denn immer noch nötig hätte, in dieser winzigen Wohnung zu leben. Immerhin müsse doch bei ihrem Preis längst etwas Besseres möglich sein.
Ines begriff nicht, wovon der Mensch überhaupt sprach.
„Ich weiss ja nicht, was andere zahlen. Ich muss jedes Mal 200,- DM hinlegen, wenn ich mit dir ins Bett will“, erklärte er.
„Und eigentlich ist das der helle Wahnsinn. Nur hat man bei dir die Gewissheit, dass nicht jeder drübersteigt. Frank passt schon auf, dass du sauber bist“.
Ines starrte den Mann an. Frank hatte sie vermietet, verraten und verkauft. Ihm zu Liebe hatte sie das getan! Weil ihm das gefiel! Nicht für Geld! Sie konnte es nicht begreifen.
Später erzählte sie Frank davon. Er erklärte ihr, dass man doch das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden könne. Ines begann zu weinen.
„Hör auf, zuheulen“, sagte er, „wenn du weiter mitmachst, haben wir nächstes Jahr so viel zusammen, dass wir heiraten können.Dann kannst du auch ein Kind haben“.
Ines machte weiter. Aber sie war am Ende ihrer Kraft. Nur der Gedanke an die Heirat hielt sie aufrecht. Dann war alles vorbei und sie konnte wieder glücklich sein. Sie würde ein Kind von Frank haben. Sie würde ihm eine gute Ehefrau und dem Kind eine gute Mutter sein. Die Hoffnung auf das große Glück ließ sie durchhalten. Sie hatte nach wie vor blindes Vertrauen zu Frank. Bernd ließ sich schon längst nicht mehr sehen. Auch seinen Sohn hatte sie nur einmal sehen dürfen. Sie hatte nur noch Frank. Und Frank wusste das.
Er würde sie heiraten und dann konnte sie alles vergessen. Und mit diesem Gedanken hielt sie das Jahr bis zu ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag durch.
Als der heißersehnte Tag heran war, fragte sie Frank, ob nun genug Geld beisammen sei, dass sie heiraten könnten
„Natürlich, das habe ich dir doch schon vorher gesagt,“ antwortete er. „Ich werde nächste Woche heiraten.“
„Was heißt, du wirst heiraten?“ fragte sie. „Wir heiraten, meinst du?“
„Wie kommst du denn auf die Idee, ich würde dich heiraten wollen? Meinst du, ich heirate eine stadtbekannte Nutte? Eine, über die schon wer weiss, wie viele gestiegen sind? Meinst du im ernst, ich würde so was wie dich heiraten?“
„Aber, du wolltest das doch!“ rief sie verzweifelt.
„Du hast das doch von mir verlangt! Du wolltest, dass ich das tue! Du hast mich doch dazu gebracht!“
„Was spielt das für eine Rolle? Ich heirate keine Hure! Ich heirate nächste Woche eine anständige Frau, die ich von Herzen liebe, und die ich schon lange vor dir kannte. Du kannst mir gestohlen bleiben. Morgen hole ich meine restlichen Sachen“.
„Das kannst du doch nicht machen, Frank! Ich liebe dich doch! Ich brauche dich doch! Du kannst nicht einfach gehen! Sag, dass du nur Scherz gemacht hast! Sag, dass das nicht wahr ist!“
Verzweifelt warf sie sich ihm um den Hals. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie führte sich auf, wie eine Wahnsinnige.
„Lass mich in Ruhe, du Dreckstück!“ Er schlug nach ihr. Mit jedem Wort schlug er sie.
„Du Hure! Du Schlampe! Du Nutte! Du Miststück! Du Luder, wahnsinniges! Lass mich in Ruhe! Verschwinde, hau ab! Nimm deine dreckigen Finger weg! Lange genug habe ich dich ertragen!“
Er schlug nach ihr. Er trat sie. Doch sie warf sich ihm immer wieder entgegen. Sie schrie. Sie warf sich ihm zu Füssen. Sie heulte.
Angewidert stieß er sie fort. Doch sie klammerte sich an ihm fest. Da trat er ihr mitten ins Gesicht. Sie fiel rückwärts gegen einen Sessel. Sie fiel mit dem Kopf dagegen und wurde besinnungslos. Aus einer großen Platzwunde lief Blut. Das Gesicht war geschwollen von seinen Schlägen und Tritten. Sie war über und über blutverschmiert.
Frank rief noch einen Krankenwagen, bevor er die Wohnung verließ und die Schwerverletzte allein liegen ließ.
Im Krankenhaus, brachte man Ines wieder auf die Beine. Man flickte sie wieder zusammen und päppelte sie regelrecht auf. Nach einigen Wochen sah sie wieder aus wie das blühende Leben. Doch sie war nur noch eine Hülle. Nur noch eine Larve. Leer. Ausgebrannt.
Frank hatte die Stirn besessen, ihr in die Klinik eine Heiratsanzeige zu senden und sich für die guten Startmöglichkeiten zu bedanken.
Ihr hätte er schließlich sein Glück zu verdanken.
Daraufhin hatte sie sich angezogen, hatte sich aus ihrer Wohnung ein Fleischmesser geholt, hatte sich dieses noch schleifen lassen, war hinaus zu den alten Weiden gefahren, wo sie als Kind Schutz und Trost gefunden hatte, wo sie ein Stück Heimat zu finden hoffte und hatte sich dort ins hohe Gras gesetzt. Dann holte sie Schreibpapier hervor und schrieb folgende Zeilen:
WENN IHR DIESE ZEILEN LEST, HAT SICH MEIN BRUDER MEINER ERINNERT. ER SOLL MIR VERZEIHEN! ICH BIN GEMORDET! DOCH DER MÖRDER GEHT STRAFFREI AUS!
Und dann folgte eine ausführliche Schilderung der Ereignisse seit der Hochzeit ihres Bruders. Diesen Bogen versteckte sie. Dieser sollte erst gar nichts über den Selbstmord seiner Schwester wissen. Frank Heinrich erklärte, im Streit mit Ines Sogota auseinander gegangen zu sein, da sie nicht einsehen wollte, dass er eine andere liebt, die er ja nun inzwischen geheiratet habe. Motiv vermute er, dass Ines genau wie ihre Mutter dem Wahnsinn verfallen sei.
Vermutlich wäre nie Klarheit über das Motiv des Selbstmordes gekommen, wäre Ines‘ Bruder nicht nach Wochen eingefallen, dass Ines dort bei den alten Weiden ein Versteck in einem hohlen Baum gehabt hatte, in dem sie schon als Kind tagebuchähnliche Aufzeichnungen versteckt hatte.
So kam es, wie Ines Sogota prophezeit hatte. Der Mann, der sie schon längst gemordet hatte, der sie zerstört und in den Tod getrieben hatte, ging straffrei aus. Es sei denn, man betrachtet die Tatsache, dass seine Frau die Scheidung einreichte, nachdem sie erfahren hatte, aus welchen Mitteln und um welchen Preis ihre Ehe zustande gekommen war, es sei denn, man betrachtet diese Tatsache als Strafe für Frank Heinrich.
1980
freundlicherweise abgetippt von meiner Freundin Jutta 2015