Die Flucht

 

Müde schleppte sie sich dahin. Sie war verletzt. Nie hatte sie sich so einsam gefühlt wie jetzt. Manchmal wäre es doch von Vorteil, sich den Anderen anzuschließen, ging es ihr durch den Kopf. Immer hatte sie sich ausgeschlossen, nun musste sie allein fertig werden. Nicht daß sie mit den Anderen nicht ausgekommen wäre, nein, aber sie war nun mal eine Einzelgängerin. Selbst mit ihren Partnern hielt sie es nicht lange aus. Erschöpft ließ sie sich sinken. Der Schmerz raste durch ihren Körper. Sie schüttelte sich. Ihr schwarzes Haar klebte. Wenigstens wusste sie ihre Sprösslinge in Sicherheit, zwei Jungen und ein Mädchen, alle prächtig gewachsen und bei bester Gesundheit. Mit Stolz dachte sie an ihre Kinder. Sie waren etwas wild, vor Allem die Kleine. Aber so brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Die drei würden ihr Leben meistern. Aber noch brauchten sie ihre Mutter.

Sie zwang sich auf die Beine. Wieder durchzuckte sie der Schmerz. Sie winselte leise. Weiter, weiter, immer weiter. Du darfst nicht aufgeben, dachte sie. Inzwischen war die Dämmerung hereingebrochen. Sie sehnte sich nach Ruhe, Sicherheit. Der Mond schimmerte durch die kahlen Äste der Bäume. Am liebsten hätte sie sich einfach fallen lassen. Aber das ging nicht.

Müde hob sie den Kopf und blinzelte den Mond an. Am liebsten hätte sie geheult. Doch sie wusste, daß sie das nicht durfte. Weiter, weiter. Regen setzte ein. Er kühlte die fiebrige Stirn. Er kühlte die Wunde. Er gab ihr Kraft. Schritt für Schritt schlich sie vorwärts. Sie wurde verfolgt. Sie wusste das. Und sie wusste, daß der Verfolger Hunde hatte. Hunde, die ihr auf der Fährte blieben. Darum durfte sie nicht ruhen. Der Regen hatte sie durchnässt. Sie fror. Doch der Regen verwischte auch ihre Spur. Sie hatte Hunger. Seit zwei Tagen hatte sie nichts im Magen. Doch sie wusste, daß sie noch einige Tage hungern musste. Erst musste sie in Sicherheit sein. Die Kinder brauchten sie noch. Wenn der Verfolger sie fand, waren die Kleinen verloren. Wenn sie den Verfolger abschütteln konnte, ebenso. Also weiter.

Ihre Schritte wurden schleppender. Sie durfte nicht zusammenbrechen. Mühsam trabte sie weiter. Im Baum schrie eine Krähe. Schrei nur, dachte sie, die Hunde hören dich noch nicht. Sie hatte genügend Vorsprung. Sie wollte in die Berge. Vor den Hunden war sie dort zwar auch nicht sicher, doch der Mensch, der ihr folgte, konnte sie dort nicht mehr verfolgen. Sie kannte sich dort aus. Kannte jeden Stein, jeden Spalt und jede riskante Stelle. Und sie kannte auch das Labyrinth der Höhlen. Der Mann hatte dort keine Chance, sie zu finden. In den Höhlen konnte sie auch die Hunde abschütteln. Dort gab es unterirdische Bäche und Flüsse. Sie musste es schaffen. Wenn nur der Wald schon hinter ihr läge. Sie gab sich einen Ruck und lief schneller.

Der Regen wurde immer heftiger. Dazu kam jetzt auch noch Sturm auf. Er peitschte ihr den Regen ins Gesicht, daß es schmerzte. Sie kämpfte sich vorwärts. Ein verzweifelter Seufzer entfuhr ihr. Das Leben hatte ihr nichts geschenkt. Sie hatte schon viel hinter sich. Oft durch eigene Schuld, dafür hatte sie sich alles erkämpft. Dabei war sie noch jung. Zu jung zum Sterben. Darum weiter, immer weiter.

Sie war mit ihrer Kraft fast zu Ende. Lange konnte sie nicht mehr laufen, ohne eine Rast einzulegen. Inzwischen war es stockfinster. Vielleicht gab der Mann auf? Wohl kaum. Sie hatte schon andere durch seine Hand sterben sehen. Und sie durfte nicht sterben.

                                                                                                                                     

                                                                                                                                             1

 

 

Da! Täuschte sie sich? Nein, tatsächlich, der Waldrand. Und dahinter die Berge. Hoch, schwarz und mächtig standen sie wie ein Scherenschnitt in der Dunkelheit. Jetzt nicht schlappmachen. Dort war die Rettung. Sie nahm sich zusammen und legte ein schnelleres Tempo vor. Sie hatte die Berge erreicht. Erleichtert atmete sie auf. Der Regen hatte aufgehört, doch der Sturm fegte mit ungeheurer Kraft über die kahlen Felsen. Sie blieb kurz stehen und sah nach dem Mond. Der Sturm jagte die Wolken in Fetzen über den Himmel, so daß der Mond wie ein Blinklicht wirkte. Sie raffte sich auf und setzte ihren Weg fort. Hoch hinauf musste sie. Dort waren die Höhlen. Dort begann das Labyrinth. All ihre Kraft legte sie in diesen Endspurt. Der Sturm hatte sie getrocknet.

Dort-der Höhleneingang! Geschafft! Erschöpft brach sie zusammen. Sie war völlig ausgepumpt. Schwer atmend blieb sie liegen. Fieber schüttelte sie. Sie fror. Nur eine kurze Rast wollte sie einlegen. Ein wenig zu Kräften kommen. Denn sie musste noch durch den Fluß. Die Hunde musste sie auch noch abhängen, erst dann war sie gerettet. Mühsam kam sie auf die Beine. Dort war der Fluß. Vorsichtig ließ sie sich ins eisige Wasser gleiten. Mit wilden Bewegungen schwamm sie flussabwärts. Schwerfällig kämpfte sie sich ans Ufer, lief ein Stück in den Gang, kehrte um und tauchte wieder ins Wasser. So schwer es ihr auch fiel, sie wiederholte den Vorgang am mehreren Stellen. Inmitten der kahlen, dunklen Felsen gab es einen Spalt unter der Wasseroberfläche. Er war gerade groß genug, sie hindurch zu lassen. Dieser Gang führte in eine Höhle, die wieder oberhalb des Wassers lag. Ihr Großvater hatte ihr diesen Weg gezeigt. Er war durch die Hand ihres Verfolgers gestorben. Er hatte diesen strapaziösen Weg nicht mehr geschafft.

Von der Höhle aus gab es etliche Gänge in die Freiheit, zu ihren Sprösslingen zurück. Das Versteck der Kleinen am Fuß der Berge lag dort, wo kein Mensch hingelangte, da ein unüberwindlicher Fels-Riss einen natürlichen Schutz bot.

Ein letztes Mal glitt sie ins kalte Wasser. Sie tauchte durch den Spalt. In der Höhle aufgetaucht, hatte sie kaum die Kraft, ans Ufer zu gelangen. Doch ihr stählerner Wille zwang sie noch ins Trockene. Kaum hatte sie festen Boden unter den Füßen, als sie zusammenbrach. Endgültig. Aber sie war gerettet.

Als sie erwachte, wusste sie nicht, wo sie war. Sie schleppte sich zum Fluß und trank. Danach sank sie wieder in sich zusammen. Wie lange sie dort vor sich hindämmerte, wusste sie nicht. Doch plötzlich war sie wach. Sie hatte das Fieber überwunden. Die Wunde war fast verheilt. Sie musste lange hier gelegen haben. Die Wunde war auch nicht so gefährlich, wie es ausgesehen hatte. Hunger wühlte in ihren Eingeweiden. Doch sie musste erst zu ihren Kleinen. Dort gab es auch etwas, das ihr den hungrigen Magen füllen konnte. Sie machte sich auf den Weg. Es war ja nicht mehr weit. Sie fühlte sich gut bei Kräften. In wildem Tempo jagte sie bergab. Schon von weitem sah sie das Versteck. Die Kleinen waren nicht zu sehen. Sie hatte es geschafft. Sie war gerettet.

Beim Versteck angekommen stieß sie ein Freudengeheul aus. Die Kleinen kamen ihr freudig entgegen. Schwanzwedelnd begrüßten sie die Mutter. Sie hatte es geschafft.

Sie – die Wölfin.

 

 

                                                                                                      Schinzkaya 1981          2

 

 

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