Nach dem Kaffee gibt es ein Weihnachtsprogramm
„Weihnachten“, schnaubte die Alte, „schon wieder soweit?“
„Aber ja, Frau Winternagel…“ säuselte die Helferin.
Freundlich legte sie der alten Dame den Arm um die Schultern.
„Sie wissen doch – heute Nachmittag kommt eine Theatergruppe mit ihrem Weihnachtsprogramm. Nach dem Kaffeetrinken bringe ich Sie in den großen Saal. Das habe ich Ihnen doch gestern schon gesagt.“
Sie hatte es ihr bestimmt schon zwanzigmal erzählt, aber so war das eben.
Die Helferin wappnete sich mit Geduld.
„Aber nun schlafen Sie noch ein wenig, Frau Winternagel.“
Sie zog die Vorhänge zu.
„Und wie gesagt – nach dem Kaffeetrinken…“ sagte sie noch und schloß die Tür von draußen.
Die alte Dame lag im Bett und überlegte.
Weihnachten, sinnierte sie.
Das wievielte war das jetzt? Heute bin ich 82… Sie rechnete zurück.
Viele Weihnachtsfeste hatte sie erlebt.
Sie dachte an ihre Kindheit in Masuren. Ihre Eltern waren arme Leute gewesen…
Angestellt im großen Gutshof – der Vater in den Ställen, die Mutter in der
Küche.
Sie erinnerte sich an tief verschneite Landschaften, zugefrorene Seen.
Auf dem großen Dorfplatz war eine Tanne geschmückt. In dem großen Gutshaus gab es sogar zwei – eine im Hof und eine in der Stube.
Die Eltern hatten viel Arbeit in der Weihnachtszeit. Die Kutschen mussten immer blankgeputzt sein, denn es gab viele Besuchsfahrten in dieser Zeit.
Und die Mutter hatte in der großen Küche alle Hände voll zu tun, denn es gab auch viele Gäste zu bewirten. Und für das Weihnachtsfest musste die Mutter auch Vorbereitung treffen – im Gutshaus.
Die kleine Irmtraud blieb mit ihren nur noch acht Geschwistern zu Haus. Die Großmutter beschäftigte die Kinder. Sie gab ihnen Anweisungen, das Häuschen, in dem sie lebten, gründlich zu putzen. Auch die Fenster, die immer wieder zufroren. Eisblumen überall, und Eiszapfen, die von den Dächern hingen.
Schneeschippen war auch tägliche Pflicht der Kinder.
Aber je näher die Weihnacht rückte, umso weicher war die Großmutter gestimmt. Wenn die Arbeit getan war, nahm sie die Kinder mit in die Küche.
Dann bastelte sie mit den Kindern Sterne aus Stroh. Oder sie schickte die Kinder in den nahen Wald, einige Tannenzweige zu suchen. Diese banden sie dann gemeinsam zum Kranze. Später schmückten sie den Kranz mit den Strohsternen.
Die Kinder waren ganz aufgeregt, bis die Großmutter vier Kerzen irgendwo hervorkramte und sie auf dem Kranz feststeckte. Dann versteckten sie gemeinsam den Kranz – noch war nicht der erste Advent. Sie wollten die Eltern überraschen.
Einige Tage später holten sie den Kranz hervor – und die erste Kerze wurde angesteckt. Großmutter und Mutter sangen Weihnachtslieder und die Kinder sangen
mit, so gut sie konnten. Und die Großmutter erzählte im flackernden Licht Märchen.
Aber die Kerzen mussten gespart werden. Sie wurden nur sonntags angezündet. Aber die Kinder wussten – bald ist Weihnachtsabend. Die Großmutter stellte sich mit den Kindern hin und sie buken dunkle Kekse – mit Honig bestrichen.
Dann kam Heilig Abend.
Der Vater kam spät nach Haus – und er brachte Tannenzweige mit. Die band er zu einem dicken Bündel und holte die Holzfigürchen hervor, die der Großvater an den langen Winterabenden geschnitzt hatte. Damit wurde der Tannenstrauß geschmückt und der Vater hatte einige Wachskerzen besorgt – die wurden obenauf gesteckt. Und um den Tannenstrauß drum rum legte er die Geschenke. Diese wurden mit einem Tuch bedeckt, ehe die Kinder hereinkommen durften, immerhin war dazu die gute Stube von den Kindern mit kleinen Zweiglein und den restlichen Strohsternen geschmückt worden. Der Großvater stieg die steile Treppe in den Keller hinab. Dort holte er die alten Krippenfiguren heraus und baute sie rum um den Weihnachtstisch auf. Die Großmutter legte die Honigkekse auf einen großen Teller, der ebenfalls auf den Tisch kam.
Dann endlich durften die Kinder in die gute Stube kommen. Der Vater zündete die Kerzen an und die Erwachsenen sangen Weihnachtslieder. Der Großvater hatte eine Ziehharmonika, auf der er die Lieder begleitete.
Inzwischen war es später Abend. Die Mutter zog die Kinder warm an und alle gingen ins Gutshaus hinauf. Dort wurden sie schon erwartet. Dann nahmen alle Bediensteten in zwei der Kutschen Platz und die Herrschaft bestieg die besonders schön geschmückten Kutschen, die für sie und ihre Gäste reserviert waren. Dann fuhr die kleine Gruppe in das nächste Dorf. Dort gab es eine schöne, alte Kirche und in dieser fand die Mitternachtsmesse statt.
So fuhren sie im tiefen Schnee durch die gefrorene Landschaft. Der hohe Himmel prangte in voller Sternenpracht. Nur die Laternen an den Kutschen tanzten mit ihren Lichtern zum Trab der Pferde. Der Schnee knirschte unter den Kufen und das Traben der Pferde war sehr gedämpft.
Die große, alte Kirche war ebenfalls festlich geschmückt und bis auf den letzten Platz besetzt, als die Messe begann. Mit der Zeit wurde es warm in der Kirche, von den vielen Menschen darin, die in dicken Jacken oder Pelzen dort saßen.
Doch dann war die Andacht vorüber. Man wünschte nach allen Seiten frohe Weihnacht und fuhr nach Haus.
Endlich wieder zu Haus, nach dem Fußmarsch vom Hof, sanken die Kinder todmüde ins Bett. Die Mutter sah noch einmal nach ihnen und lächelte, als sie die vor Aufregung selbst im Schlaf noch roten Gesichter der Kinder ansah.
Als der Weihnachtsmorgen kam, waren die Eltern schon wieder auf dem Gut.
Der Vater musste die Kutschen wieder herrichten und die Mutter die Gänse und das übrige Mahl bereiten. Doch die Herrschaft war großherzig. Sie hieß die Mutter ein kaltes Buffet für den Abend bereiten und gab ihr den Nachmittag frei. Und sie schenkte der Mutter eine Ente zum Fest. Die Mutter eilte nach Haus und briet die Ente im großen Ofen. Dann endlich wurden die Kinder wieder in die Stube gerufen und sie durften ihre Geschenke auspacken.
Die beiden großen Brüder hatten Zinnsoldaten erhalten – die anderen Kleidungsstücke, mal eine Hose, mal ein Hemd oder eine Jacke. Die Mädchen erhielten ebenfalls Kleidung, die beiden großen Schwestern Röcke, die anderen Strümpfe. Nur Irmtraud, als die Kleinste von allen, erhielt noch ein kleines Stoffpüppchen, das die Großmutter aus alten Kleidern genäht hatte. Und der Großvater hatte noch Äpfel zu den Keksen gelegt. Der Vater und der Großvater erhielten ein wenig Tabak für ihre Pfeifen, die Mutter eine neue Schürze, die ebenfalls die Großmutter genäht hatte. Und die Großmutter erhielt eine warme Decke für ihre Knie – die hatte die Mutter heimlich über den Sommer gestrickt.
Derweil duftete es im ganzen Häuschen nach dem Entenbraten. Alle setzten sich zu Tisch und ließen es sich wohl sein. Inzwischen zog Bratapfelduft durch die Ritzen der Türe. Großmutter hatte einige heimlich auf den noch heißen Ofen in der Küche gelegt. Es war ein wunderschönes Weihnachtsfest.
Und das Letzte – für lange Zeit.
Denn der Krieg kam. Alle mussten flüchten, auch die Herrschaft. Es begann eine Zeit der Kälte, des Grauens und des Hungers. Irmtraud erlebte diese Zeit wie in einem Albtraum. Lange waren sie unterwegs, ehe sie einen Unterschlupf fanden.
Der Großvater, der Vater und die Brüder mussten in den Krieg ziehen. Der Großvater fiel, der Vater fiel, vier der Brüder fielen und nur einer kam eines Tages zurück. Ihm fehlte ein Bein und er war halb verhungert. Die älteste Schwester hatte einen der Heimkehrer geheiratet. Die Zweite wurde Krankenschwester, die Dritte unterrichtete Kinder in Notunterkünften, der Bruder hatte eine Anstellung als Buchhalter gefunden.
Irmtraud arbeitete auf den Feldern. Die Mutter war krank und lag zu Bett, die Großmutter hatte die Flucht nicht überlebt. Der Krieg war schon lang vorbei, aber die Not nahm kein Ende.
In den fünfziger Jahren fand Irmtraud einen lieben Mann und hatte mit ihm drei Kinder. Es gab noch viele schöne Weihnachtsfeste mit ihrem Mann und den Kindern. Diese wurden erwachsen und heirateten und hatten wieder Kinder.
Irmtraud kannte sie alle. Inzwischen gab es sogar Urenkel. Doch ihr Mann starb bereits in den achtziger Jahren. Seitdem war Irmtraud Witwe. Und seit einigen Jahren wohne sie hier im Heim. So schöne Weihnachten wie Masuren hatte es aber nie mehr gegeben.
„So, Frau Winternagel, Kaffeezeit.“ Die Helferin zog die Vorhänge zurück. Sie half der alten Dame beim Aufstehen und nachdem diese ihre Kaffeepause beendet hatte, brachte sie Frau Winternagel in den großen Saal.
Die Vorstellung begann. Es gab Glockengeläut, Weihnachtslieder, Gedichte und ein Märchen. Bei diesem liefen der alten Dame einige Tränen über die faltigen Wangen. Sie dachte wieder an Masuren und die Märchen der Großmutter. Dann war das Programm beendet. Die Helferin schob Frau Winternagel in ihr Zimmer zurück. Die alte Dame summte ein kleines Weihnachtslied, das gerade erklungen war.
„Wissen Sie was,“ sagte die Alte zur Helferin, „Weihnachten ist doch immer wieder schön.“
12.10.2012